- 15. Dezember 2023
 - Arbeitsrecht
 
Massenentlassungen: Andeutung einer Entspannung bei den behördlichen Anzeigepflichten, Fortbestand des Minenfeldes im Konsultationsverfahren
Der 6. Senat BAG (Beschlüsse vom 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 (B), 6 AZR 155/21 (B), 6 AZR 121/22 (B), jeweils bisher vorliegend als Pressemitteilung) hat angekündigt, seine Rechtsprechung zu den Fehlerfolgen des behördlichen Anzeigeverfahrens bei Massenentlassungen zu verändern. Dies setzt zunächst eine noch abzuwartende Klärung innerhalb der Senate des BAG voraus.
Worum geht es?
Anfragebeschluss des BAG vom 27.01.2022
Das BAG hatte in dem Verfahren 6 AZR 155/21 (A) einen Anfragebeschluss an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) formuliert. Hintergrund war die Frage nach den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Pflicht des Arbeitgebers, die Konsultationsunterlage über die Unterrichtung des Betriebsrates nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG gleichzeitig der Agentur für Arbeit in Abschrift zuzuleiten. Das BAG stellte in dem Anfragebeschluss in Frage, ob diese Zuleitungspflicht einer Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat gegenüber der Agentur für Arbeit zur Unwirksamkeit der Kündigung führe. Das BAG zweifelte einen individualschützenden Charakter an. Diese – auf jene Pflicht aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG beschränkte – Entscheidung löste eine gewisse Dynamik aus. 
Behandlung der Vorlagefrage durch den EuGH
Nachdem in dem Verfahren vor dem EuGH der Generalanwalt, dem der EuGH ausgesprochen häufig folgt,  in seiner Stellungnahme bereits einen individualschützenden Charakter des gesamten Anzeigeverfahrens beim Massenentlassungen in Frage gestellt hatte, folgte dem der EuGH im Grundsatz in seinem Urteil vom 13.07.2023 (C-134/22). 
Der EuGH beantwortete die Vorlagefrage dahingehend, dass die dem § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG entsprechende Regelung des Art. 2 Abs 3 Unterabsatz 2 der Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie, MERL) nicht den Zweck habe, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmer Individualschutz zu gewähren.
Der EuGH hat demgemäß – allein dem Charakter einer Beantwortung der konkreten Vorlagefrage entsprechend – allein diesen konkreten individualschützenden Charakter der in Rede stehenden Regelung beantwortet. Der EuGH hat sich dem Generanwalt insoweit angeschlossen, dass die Einbindung der Behörde zum Zeitpunkt der einsetzenden Konsultation der Arbeitnehmervertreter wegen dieses frühen Zeitpunktes noch keinen individualschützenden Charakter haben könne. Es bestehe alleine ein kollektiver Schutzzweck.
Bisherige Umsetzung durch das BAG
Kurz vor der Entscheidung des EuGH vom 13.07.2023 hatte das BAG in zwei Rechtsstreitigkeiten am 11.05.2023 (Beschlüsse in den Sachen 6 AZR 157/22 (A), 6 AZR 121/22 (A)) mit Blick auf die bis dahin bereits vorliegende Stellungnahme des Generalanwalts in dem anhängigen EuGH-Verfahren die Rechtsstreitigkeiten ausgesetzt, bei denen (andere) Fehler im Anzeigeverfahren gegenüber der Behörde im Rahmen anzeigepflichtiger Entlassungen in Rede standen. 
Dies betraf etwa die Frage, dass die Massenentlassungsanzeige bereits vor Abschluss des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat und damit verfrüht und unter Fehlen einer abschließenden Stellungnahme des Betriebsrates bei der Agentur für Arbeit erstattet wurde, was nach bisheriger nationaler Rechtsprechung zu Unwirksamkeit der Kündigung geführt hätte. Es betraf zum anderen die Frage, ob aufgrund der Personalstärke des Betriebes überhaupt anzeigepflichtige Entlassungen als Voraussetzung der Einleitung eines Anzeigeverfahrens gegenüber der Behörde vorgelegen hatten, weil dann eine Anzeige gänzlich fehlte.
Beide Fälle betrafen damit nicht die von der bisherigen Vorlagefrage umfasste Bedeutung des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG. Jedoch hat das BAG in den beiden am 11.05.2023 behandelten Verfahren mit Blick auf die Stellungnahme des Generalanwalts Zweifel geäußert, ob an der bisherigen Rechtsfolgensystematik einer Unwirksamkeit der Kündigung bei Fehlern im Anzeigeverfahren festzuhalten sei.
Entscheidungen vom 14.12.2023
Dies mündete nunmehr in die ausweislich der Pressemitteilung vom 14.12.2023 gefassten Beschlüsse. Der mit den Verfahren befasste 6. Senat des BAG (u.a. zuständig für Kündigungen aus Insolvenzsituationen heraus) beabsichtigt generell das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG nicht mehr als nichtigkeitsbegründend für eine Kündigung zu betrachten und seine bisherige Rechtsprechung aufzugeben. 
Da der u.a. allgemein für Kündigungen zuständige 2. Senat des BAG bisher – ebenso wie vor der angekündigten Rechtsprechungsänderung der 6. Senat– Fehler im Anzeigeverfahren als unwirkamkeitsbegründet betrachtet hat, hat der 6. Senat des BAG beim 2. Senat des BAG angefragt, ob an dieser Rechtsprechung festgehalten werde. Sollte sich der 2. Senat der nunmehrigen Rechtsauffassung des 6. Senates anschließen, ist eine Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung zu erwarten. Anderenfalls wäre bei unterschiedlichen Auffassungen der beiden Senate der sog. Große Senat des BAG zu einer Entscheidung berufen. Dies bleibt nunmehr abzuwarten.
Auswirkungen auf das Konsultationsverfahren?
Das Anzeigeverfahren nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG ist vom Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG strikt zu trennen. Beide Verfahren stellen – im Falle eines Verstoßes des Arbeitgebers – jeweils für sich genommen unterschiedliche Unwirksamkeitsgründe für eine Kündigung dar (etwa BAG vom 22.09.2016 – 2 AZR 276/16). 
Die nun (angekündigte) Rechtsprechungsänderung hat darauf unmittelbar zunächst keine Auswirkungen. Dies würde in einem weiteren Schritt erfordern, dass ebenfalls für das Konsultationsverfahren ein individualschützender Charakter in Frage gestellt wird, was bisher weder in der Behandlung durch die nationale Rechtsprechung des BAG und der Instanzgerichte noch in den grundlegenden Weichenstellungen des EuGH zur MERL begründbar wäre. 
Die Konsultationspflichten des Arbeitgebers werden deshalb weiterhin uneingeschränkt bestehen und im Falle von Verstößen die Unwirksamkeit einer Kündigung begründen können. Dies betrifft etwa die Frage, ob überhaupt ein Konsultationsverfahren eingeleitet wird, also bspw. eine zutreffende Behandlung der Schwellenwerte, ab der die Voraussetzungen anzeigepflichtiger Entlassungen erfüllt sind, nicht minder jedoch auch die zutreffende Ausfüllung der Unterrichtungspflichten gegenüber dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG bis hin zur Berücksichtigung von Fremd-Geschäftsführern aufgrund ihrer EU-rechtlichen Arbeitnehmereigenschaft..
Lediglich für die sog. Soll-Angaben wird keine Unwirksamkeitsfolge anzusehen sein, ansonsten stellt sich stets die Frage nach einer Relevanz für die Wirksamkeit jeder konkreten Kündigung. Fehlerhaft ist ein Konsultationsverfahren aber bspw. auch dann, wenn der Arbeitgeber die Beratungen mit dem Betriebsrat nicht ausreichend durchgeführt hat. Das Konsultationsverfahren ist und bleibt damit fehleranfällig und ein Risikofaktor im Zuge anzeigepflichtiger Entlassungen – ein wahres Minenfeld für den Praktiker.
Fazit
Einige Pflichten des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG werden künftig ggf. nicht mehr unwirksamkeitsbegründend für Kündigungen sein. Dies reduziert die Fehleranfälligkeit der Durchführung anzeigepflichtiger Entlassungen. Auswirkungen auf das Konsultationsverfahren mit den Arbeitnehmervertretern lassen sich allerdings bisher nicht erkennen, sodass die beabsichtigte Rechtssprechungsänderung des BAG nicht dazu führen wird, die teilweise fehleranfälligen Pflichten des Arbeitgebers grundlegend zu relativieren. 
 
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