- 14. September 2022
- Arbeitsrecht
Nun doch: Pflicht des Arbeitgebers zur Einführung einer Zeiterfassung
Am 14.05.2019 hat der EuGH (EuGH v. 14.05.2019 – C-55/18) entschieden, dass die dem Gesundheitsschutz dienende Richtlinie 2003/88/EG (nachfolgend EU-Arbeitszeitrichtlinie) es zur Durchsetzung ihrer Vorgaben erfordert, eine gesicherte Dokumentation der Arbeitszeiten durchzuführen (näher dazu ESCHE blog v. 21.05.2019: Neues vom EuGH: Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser!). Offen blieb, was dies für das deutsche Recht bedeutet. Nachdem zwischenzeitlich – in vergütungsrechtlicher Hinsicht – eine Relevanz dieser Entscheidung relativiert wurde (BAG v. 04.05.2022 – 5 AZR 359/21), stand arbeitsschutzrechtlich verbreitet die Frage im Raum, ob die Aufzeichnungspflicht des § 16 Abs. 2 ArbZG auf Grundlage der EuGH-Vorgabe europarechtskonform auszulegen sei. Das BAG (Beschluss v. 13.09.2022 – 1 ABR 22/21 – Pressemitteilung) geht nun einen anderen Weg – jedoch mit demselben Ergebnis und ganz erheblichen praktischen Konsequenzen.
Keine Vergütungsrelevanz der Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019
Vereinzelt war in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung anlässlich von Überstundenvergütungsprozessen angenommen worden, dass seit der Entscheidung des EuGH eine Pflicht des Arbeitgebers bestehe, sämtliche Arbeitszeiten zu dokumentieren, anderenfalls werde die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenabgeltungsprozess modifiziert (ArbG Emden v. 24.09.2020 – 2 Ca 144/20). Dem hat das BAG (BAG v. 04.05.2022 – 5 AZR 359/21) allerdings eine Absage erteilt. Der Zweck der EU-Arbeitszeitrichtlinie diene dem Gesundheitsschutz und nicht der Durchsetzung von Vergütungsansprüchen. Für diese gelte weiterhin, dass der Arbeitnehmer nach allgemeinen Grundsätzen die Tatsachengrundlage für eine ausreichende Darlegung eines Anspruchs auf Vergütung von Überstunden trage.
Europarechtskonforme Auslegung des Arbeitszeitgesetzes?
Die bisherige Diskussion über die Umsetzung der Entscheidung des EuGH fokussierte sich im Wesentlichen auf die Frage, ob das Arbeitszeitgesetz – insbesondere § 16 Abs. 2 ArbZG – europarechtskonform dahingehend auszulegen sei, dass eine entsprechende Dokumentationspflicht des Arbeitgebers bestehe. Hierfür sprach insbesondere, dass der EuGH die besondere Bedeutung des Schutzes des Arbeitnehmers durch die EU-Arbeitsschutzrichtlinie im Kontext zu arbeitsschutzrechtlichen Organisationspflichten (Richtlinie 89/391/EWG) aber auch zu Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta betrachtete. Gerade diese letztere Bestimmung war es, die beispielsweise im Urlaubsrecht die Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers zur Herbeiführung eines Verfalls von Urlaubsansprüchen – ebenso auf Grundlage der EU-Arbeitszeitrichtlinie – auch ohne gesetzliche diesbezügliche Regelung zu begründen vermochte. Da der EuGH in seiner Entscheidung indessen ausdrücklich einen Regelungsauftrag der Mitgliedsstaaten der EU formuliert hat, wurde die Entscheidung überwiegend dahingehend verstanden, dass eine unmittelbare Geltung der EuGH-Entscheidung im jeweiligen nationalen Recht der Mitgliedstaaten nicht anzunehmen sei.
Neu: Dokumentationspflicht der Arbeitszeiten als Bestandteil der arbeitsschutzrechtlichen Arbeitszeitorganisation
Das BAG hat mit Beschluss vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21 – Pressemitteilung) nun entschieden, dass eine unionsrechtliche Dokumentationspflicht des Arbeitgebers Bestandteil der Verpflichtung des Arbeitgebers sei, eine geeignete Arbeitsschutzorganisation aufzustellen (§ 3 Abs. 2 ArbSchG).
Hintergrund des Rechtstreites vor dem BAG war die Initiative eines Betriebsrates, den Arbeitgeber im Wege der Ausübung des Mitbestimmungsrechts aus § 87 BetrVG zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung zu verpflichten. Das BAG hat nun – im Rahmen des Initiativrechts des Betriebsrats aus § 87 BetrVG – eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG vorgenommen, wonach der Arbeitgeber bereits gesetzlich verpflichtet sei, Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. In dem Rechtstreit unterlag der Betriebsrat. Es stand kein Initiativrecht des Betriebsrates im Raum, über die Einführung und Anwendung der elektronischen Zeiterfassung zu entscheiden, da der Arbeitgeber nach der Betrachtung des BAG bereits kraft Gesetzes zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung verpflichtet war. Die Mitbestimmung nach § 87 BetrVG findet ihre Grenze beim Bestehen einer (abschließenden) gesetzlichen Regelung (§ 87 Abs. 1 BetrVG). Diesbezüglich bleiben die Entscheidungsgründe abzuwarten, um verbleibende Spielräume für eine Mitbestimmung (insbesondere im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bei der Durchführung der elektronischen Zeiterfassung) abzugrenzen.
Von Bedeutung ist indessen, dass nach dieser Betrachtung des BAG der Arbeitgeber stets bereits kraft Gesetzes verpflichtet ist, ein – elektronisches oder nicht elektronisches – System zur Erfassung geleisteter Arbeitszeit im Betrieb einzuführen.
Praktische Bedeutung und Fazit
Mit der Entscheidung stellt das BAG die Grundlagen der Erfassung von Arbeitszeiten im deutschen Arbeitsrecht auf neue Füße.
Einerseits bedeutet dies Entwarnung für den Arbeitgeber in zweierlei Hinsicht. Zum einen haben Arbeitnehmer vielfach keine klagbaren Ansprüche auf die Erfüllung rein arbeitsschutzrechtlicher Verpflichtungen des Arbeitgebers – entschieden etwa für die fehlende Durchsetzbarkeit eines Anspruchs auf Home Office unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes (ArbG München v. 08.04.2021 – 32 Ga 33/21). Andererseits kann der Betriebsrat im Rahmen seiner Regelungskompetenz nach § 87 BetrVG den Arbeitgeber nicht zur Einführung eines Zeiterfassungssystems zwingen.
Die praktische Bedeutung ist jedoch erheblich. Sie liegt insbesondere darin, dass der Arbeitgeber nun arbeitsschutzrechtlich unmittelbar kraft Gesetzes verpflichtet ist, ein System der Zeiterfassung einzuführen. Da das BAG dies auf eine unionsrechtskonforme Auslegung stützt, sind hierfür die Maßstäbe des EuGH heranzuziehen.
- Mit dem System der Zeiterfassung muss die Einhaltung des Arbeitsschutzrechts nachvollzogen werden können. Nach den Maßstäben des EuGH hat der Arbeitgeber ein verlässliches und zugängliches System einzurichten, sodass beispielsweise auch bei mobilen Arbeiten etc. ein System der Arbeitszeiterfassung durch den Arbeitgeber gewährleistet sein muss.
- Anhand der dokumentierten Zeiterfassung ist – anders als bisher am Maßstab des § 16 Abs. 2 ArbZG – nach den Vorgaben des EuGH die vollständige Arbeitszeit zu dokumentieren. Dies bezieht sich auf Beginn und Ende der Arbeitszeiten einschließlich der Pausenzeiten, sodass auf dieser Grundlage die Einhaltung von Höchstarbeitszeiten, die Einhaltung von Ruhepausen, wie auch die Einhaltung der Ruhezeit nachvollzogen werden kann.
- Die Pflichten des Arbeitgebers bei der Umsetzung arbeitsschutzrechtlicher Maßnahmen werden durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beschränkt. Der EuGH verweist in seiner Entscheidung im Zusammenhang mit dem formulierten Regelungsauftrag für die Mitgliedsstaaten ausdrücklich auf eine Ausnahmeregelung in der EU-Arbeitszeitrichtlinie, wonach Abweichungen zulässig sind, wenn die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann. Möglicherweise können diese Aspekte auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung herangezogen werden und Ausnahmen von der grundsätzlich umfassenden Dokumentationspflicht begründen.
- Schließlich wird abzuwarten sein, wie im Rahmen des „mobilen Arbeitens außerhalb der Arbeitszeit“ insbesondere seitens der Aufsichtsbehörden vorgegangen wird. So ist seit Jahren eine lebhafte Diskussion festzustellen, ob bei mobiler Verfügbarkeit von dienstlichen E-Mails außerhalb des Betriebs beispielsweise das Lesen oder erst das Bearbeiten einer dienstlichen E-Mail nach Feierabend noch Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes darstellt. Diese kann nunmehr zu dokumentieren sein und eine neue einzuhaltende Ruhezeit auslösen.
Es ist zu erwarten, dass die Arbeitsschutzbehörden die Einhaltung dieser Pflichten künftig kontrollieren.
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