- 12. Mai 2025
- Prüfung
Ausschüttungssperre nach § 253 Abs. 6 HGB – Ein Anachronismus bei inverser Zinsstruktur
Einordnung eines aktuellen Bilanzierungsproblems in Zeiten ungewöhnlicher Zinsentwicklungen.
In den letzten Jahren hat sich das Zinsumfeld fundamental gewandelt. Nach Jahren historisch niedriger Zinssätze erleben wir aktuell nicht nur eine Zinswende, sondern auch ein Phänomen, das im HGB-Kontext bislang keine praktische Rolle spielte: eine inverse Zinsstrukturkurve. Das bedeutet, dass kurzfristige Zinssätze über den langfristigen liegen – ein Novum mit relevanten bilanziellen Auswirkungen, insbesondere im Hinblick auf die Bewertung von Rückstellungen und die damit verbundene Ausschüttungssperre nach § 253 Abs. 6 HGB.
Der Zweck des § 253 Abs. 6 HGB
Die Vorschrift wurde mit dem BilMoG im Jahr 2009 eingeführt und sollte einen Schutzmechanismus für das Eigenkapital schaffen. Hintergrund war, dass Rückstellungen mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr nach § 253 Abs. 2 Satz 1 HGB abzuzinsen sind. Die Wahl des durchschnittlichen Marktzinssatzes der letzten zehn Jahre (anstelle des aktuellen Satzes) wurde als bilanzpolitisches Instrument etabliert, um konjunkturelle Schwankungen abzufedern.
Gleichzeitig erkannte der Gesetzgeber die Gefahr, dass durch diese Praxis zu geringe Rückstellungen bilanziert werden könnten – was zu einer überhöhten Gewinnausschüttung führen könnte. Deshalb wurde § 253 Abs. 6 HGB geschaffen: Der Unterschiedsbetrag zwischen der Rückstellung nach 10-Jahres-Zinssatz und dem fiktiv niedrigeren Wert bei Anwendung des 7-Jahres-Zinssatzes muss passivisch ausgewiesen werden, verbunden mit einer Ausschüttungssperre in dieser Höhe.
Die Herausforderung: Inverse Zinsstruktur
Aktuell jedoch hat sich die Situation umgekehrt: Der 7-Jahres-Zinssatz ist höher als der 10-Jahres-Zinssatz – eine klassische inverse Zinsstruktur. Paradoxerweise würde bei Anwendung des 7-Jahres-Satzes nun eine niedrigere Rückstellung ermittelt als bei Anwendung des 10-Jahres-Satzes. Nach dem Wortlaut des § 253 Abs. 6 HGB wäre dennoch ein (negativer) Unterschiedsbetrag zu ermitteln – und es könnte formal zu einer Ausschüttungssperre kommen, obwohl keine Eigenkapitalentlastung vorliegt. Ein klassischer Fall, in dem der Wortlaut dem Normzweck widerspricht.
Bewertung und Handlungsempfehlung
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Unternehmen trotz inverser Kurve an einer formalen Ausschüttungssperre gehindert sind. Juristisch lässt sich argumentieren, dass eine Ausschüttungssperre nur bei einem positiven Unterschiedsbetrag greift, also wenn die Rückstellungen durch die Anwendung des 10-Jahres-Satzes niedriger ausfallen als bei kürzerem Zins. Der Gesetzeszweck – Schutz des ausschüttungsfähigen Eigenkapitals vor bilanzieller Verzerrung – wird durch eine Sperre bei negativem Unterschied konterkariert.
Aus Sicht der Bilanzpraxis empfiehlt sich daher:
Eine kritische Prüfung der Ausschüttungssperre unter Berücksichtigung des Normzwecks. Die Dokumentation der Zinssituation und der daraus abgeleiteten Bewertung der Rückstellungen. Im Zweifel die Einbindung des Wirtschaftsprüfers zur Einzelfallbeurteilung, ob tatsächlich eine Ausschüttungssperre entsteht. Die inverse Zinsstruktur offenbart einen systematischen Schwachpunkt des § 253 Abs. 6 HGB. Was ursprünglich als Instrument zur Gewinnzurückhaltung gedacht war, kann sich nun – bei rein formaler Anwendung – zum Hemmnis sachgerechter Ausschüttungen entwickeln. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber oder das IDW eine Klarstellung vornimmt. Bis dahin gilt es, mit Augenmaß und guter Argumentation zu handeln – und die Vorschrift nicht dogmatisch, sondern zweckorientiert auszulegen.
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