• 14. Juli 2023
  • Arbeitsrecht

(Keine) EuGH Entscheidung zu den Rechtsfolgen von Fehlern im Massenentlassungsverfahren

Seit dem Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 27.01.2022 (Az. 6 AZR 155/21 (A)) wird kontrovers diskutiert, ob Verstöße gegen die Konsultations- bzw. Massenentlassungsanzeigepflicht – wie vom BAG in ständiger Rechtsprechung seit 2012 angenommen – weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. 

Zwar geht es in dem Vorlagebeschluss (nur) um Beantwortung der Frage, ob bereits die Nichtübermittlung einer Abschrift der Konsultation des Betriebsrats an die Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigungen führe. Allerdings hat das BAG (Pressemitteilung vom 11.05.2023) vor dem Hintergrund der Ausführungen des Generalanwalts Pikamäe beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) zuletzt generell in Frage gestellt, ob das von ihm entwickelte Sanktionssystem mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird, in Einklang steht oder zu Lasten von Arbeitgebern unverhältnismäßig sein könnte. Es hat deshalb vor dem Hintergrund der zu erwartenden Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-134/22 mehrere Verfahren ausgesetzt (6 AZR 157/22); 6 AZR 482/21, 6 AZR 115/22 und 6 AZR 121/22.

Der EuGH hat nunmehr mit Urteil vom 13.07.2023 entschieden, dass die Pflicht zur Übermittlung einer Abschrift der Konsultation des Betriebsrats an die Agentur für Arbeit nach Art. 2 Abs. 3 U2 MERL keinen Individualschutz gewährt. Was daraus für die Wirksamkeit von Kündigungen bei Massenentlassungen folgt, soll in diesem Beitrag erörtert werden.

Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsverfahren
Durch die §§ 17 ff. KSchG wurde die MERL in nationales Recht umgesetzt. Nach §§ 17 ff. KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, bei Massenentlassungen ein sog. Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchzuführen (Abs. 2) und die beabsichtigten Entlassungen der zuständigen Agentur für Arbeit anzuzeigen (Abs. 1, 3 S. 2 – 4, 3a). Gleichzeitig muss der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Konsultation des Betriebsrats zuleiten (Abs. 3 S. 1).

Spätestens seit 2012 hat das BAG ein Sanktionssystem für Verstöße gegen die genannten Pflichten entwickelt. Danach führen Fehler im Massenentlassungsverfahren grundsätzlich zur Unwirksamkeit der Kündigung. Dies wird damit begründet, dass § 17 KSchG (in Teilen) ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB darstellt. Anderes gilt z.B. bei Fehlen der sog. Soll-Vorschriften nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG, welche für sich genommen nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen (vgl. BAG vom 19.05.2022 – 2 AZR 467/21). Damit hat sich die eigentlich beabsichtigte arbeitsmarktpolitische Zwecksetzung der MERL hin zu einem individualschützenden Charakter der §§ 17 ff. KSchG entwickelt. 

Diese Rechtsprechung steht nunmehr auf dem Prüfstand.

Vorlagebeschluss des BAG vom 27.01.2022 – 6 AZR 155/21 (A)
Doch der Reihe nach: Das BAG hat dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchens zu der Frage vorgelegt, welche Sanktion ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nach sich zieht. 

Dem lag ein Kündigungsschutzverfahren zwischen dem Kläger, welcher bei der insolventen G-GmbH beschäftigt war, und dem Beklagten als Insolvenzverwalter zugrunde. Es wurde beschlossen, den Geschäftsbetrieb der G-GmbH vollständig einzustellen und sämtliche zuletzt noch beschäftigte Arbeitnehmer zu entlassen. Nach dem Stilllegungsbeschluss fanden mit dem Betriebsrat Interessenausgleichsverhandlungen statt und ein Interessenausgleich wurde unterzeichnet. Ein gesondertes Konsultationsverfahren wurde nicht durchgeführt, sondern beide Beteiligungsverfahren – wie in der Praxis üblich – in dem Interessenausgleichsverfahren miteinander verbunden. In der Folge wurde eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit erstattet und unter anderem das Arbeitsverhältnis des Klägers gekündigt. Allerdings wurde der Agentur für Arbeit entgegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG keine Abschrift der Konsultation des Betriebsrats übermittelt. Der Kläger stützt seine Klage unter anderem hierauf.

Das BAG hatte sich mit der Frage zu befassen, ob § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB darstellt. Dies mit der Folge, dass die unterbliebene frühzeitige Einbeziehung der Arbeitsagentur in das Konsultationsverfahren die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hätte. In den Entscheidungsgründen führte das BAG aus, dass es zwar wiederholt angenommen habe, dass Verstöße gegen die den Arbeitgeber im Zusammenhang mit Massenentlassungen treffenden Pflichten wegen des mit ihnen bezweckten Arbeitnehmerschutzes zur Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB führen. Allerdings sähen weder die MERL noch das nationale Recht eine ausdrückliche Sanktion für Fehler im Massenentlassungsverfahren vor. Ob der der vorliegende Verstoß ebenfalls zur Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB führe, könne das BAG jedoch nicht selbst beurteilen. Um dies entscheiden zu können, müsse der Schutzzweck des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG ermittelt werden. Dazu bedürfe es der Auslegung des Schutzzwecks des Art. 2 Abs. 3 U2 der MERL, welche alleine dem EuGH obliege. Das BAG hat daher den EuGH angerufen.

Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-134/22
Die Entscheidung des EuGH wurde mit Spannung erwartet. Dies umso mehr, als der Generalanwalt beim EuGH in seinen Schlussanträgen vom 30.03.2023 zu dieser Sache den Individualbezug der MERL generell in Frage gestellt hatte (Rn. 50 ff.). Nach seinen Ausführungen begründet die MERL nur eine Verpflichtung gegenüber Behörden und Arbeitnehmervertretern. Die Mitgliedstaaten müssen im nationalen Recht Maßnahmen vorsehen, die es den Arbeitnehmervertretern ermöglichen, die Einhaltung dieser Pflichten überprüfen zu lassen. Dagegen verpflichte die MERL Mitgliedsstaaten keineswegs, einen Verstoß gegen die in der Richtlinie vorgesehenen Pflichten mit der Unwirksamkeit der Kündigung zu sanktionieren.

Der EuGH hat sich hinsichtlich der Auslegung von Art. 2 Abs. 3 U2 MERL weitgehend der Einschätzung des Generalanwalts angeschlossen. Zu der Frage, ob die MERL generell Individualschutz entfaltet, hat sich der EuGH allerdings gar nicht geäußert. Die Entscheidungsgründe deuten jedoch darauf hin, dass das in der MERL an anderer Stelle geregelte Konsultationsverfahren selbst sowie die Massenentlassungsanzeige durchaus Individualschutz entfalten könnten. Auf das in Art. 3 und 4 MERL geregelte Anzeigeverfahren sind die Argumente jedenfalls nicht übertragbar. Denn der EuGH argumentiert bei der Ablehnung des Individualschutzes des Art. 2 Abs. 3 U2 unter anderen damit, dass die Agentur für Arbeit im Konsultationsverfahren des Betriebsrats keine aktive Rolle einnehme (Rn. 34 ff.). Im Gegensatz zur aktiven Rolle im Anzeigeverfahren und der damit verbundenen 30-tägigen Entlassungssperre (vgl. Art. 3 und 4 MERL). Gleiches gilt für den Betriebsrat im Konsultationsverfahren (Art. 2 Abs. 1 – 3 U1, 4). Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen.

Ausblick
Zwar steht nunmehr fest, dass zumindest Art. 2 Abs. 3 U2 MERL keinen Individualbezug hat. Folgerichtig müsste das BAG im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zu dem Ergebnis kommen, dass § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG kein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB darstellt – und damit nicht die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hat.

Das erwartete Grundsatzurteil bleibt jedoch aus. Denn aus der Entscheidung des EuGH lässt sich nicht ableiten, dass das vom BAG entwickelte Sanktionssystem bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes unvereinbar wäre. Daraus folgt, dass Fehler bei der Massenentlassungsanzeige weiterhin zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen können. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG in den eingangs genannten Verfahren dem EuGH die Frage vorlegt, ob dort einschlägige andere Artikel der MERL Individualschutz entfalten. Dies wäre nur konsequent. 

Eine Abkehr der Sanktionsrechtsprechung wäre angesichts der ursprünglich rein arbeitspolitischen Zwecksetzung der §§ 17 ff. KSchG zu begrüßen. Bis dahin sind Arbeitgeber gut beraten, bei der Erstattung von Massenentlassungsanzeigen weiterhin Vorsicht walten zu lassen.