• 04. September 2025
  • Arbeitsrecht

BAG: Die Kündigung Schwerbehinderter in der Wartezeit setzt kein Präventionsverfahren voraus

Das Bundesarbeitsgericht schafft Klarheit: Welche Folgen hat ein unterbliebenes Präventionsverfahren bei einer Kündigung innerhalb der Wartezeit? (BAG v. 03.04.2025 – 2 AZR 178/24).

Stellen Sie sich vor: Die ersten Monate eines Arbeitsverhältnisses laufen, aber es passt nicht – fachlich, organisatorisch oder menschlich. Der Arbeitgeber möchte sich von seinem Arbeitnehmer trennen, bevor die Wartezeit abläuft und eine Kündigung am Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zu messen ist. Der Arbeitnehmer ist jedoch schwerbehindert oder gleichgestellt. Muss nun ein Präventionsverfahren einleiten werden, wie es die Kündigung eines Schwerbehinderten üblicherweise jedenfalls indirekt voraussetzt? Ziel eines solchen Verfahrens ist es grundsätzlich, Maßnahmen zu ermitteln, die auftretende Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Beschäftigten beseitigen können, z.B. durch Arbeitsplatzanpassungen, Weiterbildungen oder Hilfen des Integrationsfachdienstes. Das BAG hat die aufgeworfene Frage nun entschieden: Nein, die Pflicht zur Prävention nach § 167 Abs. 1 SGB IX greift in den ersten sechs Monaten (der arbeitsrechtlichen „Wartezeit“ nach § 1 Abs. 1 KSchG) nicht. Das schafft Rechtssicherheit – und verlangt zugleich professionelle HR‑Praxis.
 

Sachverhalt des Urteils
Die Parteien streiten im Ausgangsfall, den das BAG zu entscheiden hatte, über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung in der Wartezeit. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem schwerbehinderten Kläger vor Ablauf der sechsmonatigen Probezeit und der gleichlaufenden Wartezeit ordentlich. Der Kläger machte geltend, dass die Kündigung nach § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG i.V.m. § 134 BGB nichtig und im Übrigen gem. § 242 BGB unwirksam sei. Die Beklagte habe – was zutraf – kein Präventionsverfahren gem. § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt und gegen die Pflicht zum Angebot eines behinderungsgerechten Arbeitsplatzes verstoßen.

Entscheidung
Das BAG entschied, dass der Arbeitgeber nicht verpflichtet war, vor einer ordentlichen Kündigung während der Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG) ein Präventionsverfahren i.S.d. § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Die Kündigung der Beklagten innerhalb der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG sei daher wirksam erfolgt. 

Die Kündigung sei nicht wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbots aus § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG i.V.m. § 134 BGB nichtig. Zwar entspreche es gefestigter Rechtsprechung, dass auch die ordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers, auf dessen Arbeitsverhältnis das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung findet, und die aus einem der in § 1 AGG genannten Gründe diskriminiert, nach § 134 BGB i.V.m. §§ 1, 3 AGG nichtig sein kann (BAG 23. Juli 2015 – 6 AZR 457/14).Im vorliegenden Fall läge aber bereits keine Diskriminierung vor:

Einzig denkbarer Bezugspunkt für eine etwaige Diskriminierung sei das unterbliebene Präventionsverfahren. Ein bloßer Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die besondere Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, stelle für sich genommen zwar keine Benachteiligung wegen einer Behinderung im Sinne des § 7 Abs. 1 sowie der §§ 1 und 3 AGG dar. Er begründe aber regelmäßig die Vermutung einer unmittelbaren Benachteiligung, die sodann widerlegt werden müsse. Dies gilt, da durch das pflichtwidrige Verhalten der Eindruck entsteht, der Arbeitgeber sei an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht interessiert (BAG, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 136/22).

Die Frage, ob ein unterlassenes Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX eine Benachteiligung wegen der (Schwer-) Behinderung i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG aufgrund Verstoßes gegen besondere Verfahrens- und Förderpflichten vermuten lässt, könne jedoch offenbleiben. Die das Präventionsverfahren regelnde Norm sei in der Wartezeit schon nicht anwendbar. Dies begründet das BAG mit einer Auslegung der Norm zum Präventionsverfahren (§ 167 Abs. 1 SGB IX), die ergebe, dass die Vorschrift ausschließlich für Kündigungen im zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes gilt und somit während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG nicht zur Anwendung kommt. 

Der Gesetzgeber knüpfe in § 167 Abs. 1 SGB IX erkennbar an die Terminologie des Kündigungsschutzgesetzes an (§ 1 Abs. 2 KSchG), wenn es in der Vorschrift heißt „Ein Präventionsverfahren soll bei „Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis“ durchgeführt werden“. Dies hätte er nicht getan, wenn er dadurch nicht einen Bezug zu der Vorschrift herstellen wollte. Der Kündigungsschutz des in Bezug genommenen Kündigungsschutzgesetzes greift jedoch erst nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit ein.

Auch enthalte § 167 Abs. 1 SGB IX im Vergleich zu anderen Vorschriften keine ausdrückliche Anordnung einer Unwirksamkeitsfolge bei unterbliebenem Verfahren. So führe unter anderem die unterlassene Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung gem. § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX zur Unwirksamkeit einer Kündigung. Dies sei eine bewusst gewählte Folge, die der Gesetzgeber im Rahmen von Novellierungen im Bereich der Regelungen für Menschen mit Behinderungen vorgenommen hat (Bundesteilhabegesetz v. 23. Dezember 2016 und Teilhabebestärkungsgesetz v. 2. Juni 2021). Für die Vorschrift des § 167 Abs. 1 SGB IX erfolgte diese Änderung nicht, sodass auch eine historische Auslegung dafürspreche, dass der Gesetzgeber die bisherige Rechtsprechung des BAG in Bezug auf § 167 Abs. 1 SGB IX verinnerlicht habe und gerade nicht die Unwirksamkeit einer Kündigung aufgrund eines unterbliebenen Präventionsverfahrens annehme. Vielmehr sei die Vorschrift systematisch als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzusehen. Dieser finde jedoch nach gefestigter Rechtsprechung außerhalb des zeitlichen und betrieblichen Geltungsbereichs des Kündigungsschutzes keine Anwendung (BAG v. 24. Januar 2008 – 6 AZR 96/07). Da im Ergebnis schon keine Diskriminierung wegen der Behinderung angenommen werden könne, fordern auch internationales und europäisches Recht keine andere Bewertung der unterlassenen Durchführung des Präventionsverfahrens. Weiter sei die Kündigung nicht nach § 242 BGB durch Willkür, sachfremde oder diskriminierende Motive treuwidrig, weil die fachliche Nichteignung des gekündigten Arbeitnehmers laut BAG in keinem dargelegten Zusammenhang mit der Schwerbehinderung des Klägers stehe. 

Praxishinweise
Das BAG hat somit Rechtssicherheit dahingehend geschaffen, dass eine Kündigung während der Wartezeit nicht aufgrund eines unterlassenen Präventionsverfahrens unwirksam ist. Gleichzeitig macht die Entscheidung deutlich, dass der Arbeitgeber auf den besonderen Kündigungsschutz von schwerbehinderten Menschen weiterhin ein Augenmerk zu legen hat.

Auch schwerbehinderte und gleichgestellte Arbeitnehmer dürfen erprobt werden und die Entscheidung eines Arbeitgebers, dass die jeweiligen Fähigkeiten den Anforderungen an eine Stelle nicht genügen, ist legitimer Kündigungsgrund. Gleichwohl haben schwerbehinderte Menschen nach § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX gegenüber ihren Arbeitgebern Anspruch auf eine Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Dieser Anspruch greift auch schon in der Wartezeit. Zudem kann eine diskriminierende Kündigung auch weiterhin die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge haben. Nur ist nun klar, dass das unterlassene Präventionsverfahren in der Wartezeit ohne weitere Anknüpfungspunkte keine solche Diskriminierung darstellt.

Jedenfalls nach Ablauf der Wartezeit ist die Durchführung eines Präventionsverfahrens jedoch unbedingt zu empfehlen. Auch ohne ausdrücklich normierte Unwirksamkeitsfolge für die Kündigung bei unterbliebenem Präventionsverfahren fällt die Verhältnismäßigkeitsentscheidung ohne Präventionsverfahren regelmäßig zulasten des Arbeitgebers und seiner Kündigung aus. Rein faktisch ist das Verfahren damit doch zumeist erforderlich, damit der Arbeitgeber seine unternommenen Suche nach Alternativen zur Kündigung darlegen kann. Über das AGG kommt eine weitere Ebene möglicher Nichtigkeitsgründe für die Kündigung Schwerbehinderter hinzu, sollte diese – wie im betrachteten Urteil gerade nicht der Fall – konkreter an die Behinderung anknüpfen. Eine solche Diskriminierung ist zu vermeiden.


Weiterführende Links

Volltext der Entscheidung: BAG 2 AZR 178/24 - Das Bundesarbeitsgericht